Wahre Wertschätzung ist, seinem Gegenüber die eigene Realität schonungslos zuzumuten...


Definitionen und Hintergründe


Was Wertschätzung ist, lässt sich einfach an folgendem Gedankenexperiment zeigen:


Wann fühlst du dich wertgeschätzt? Typischerweise dann, wenn dich jemand so nimmt, wie du bist. Wenn jemand dir zuhört, ohne dich zu verändern oder zu bewerten. Wenn du das Gefühl hast, ich darf sein, wie ich bin.


Was bedeutet Wertschätzung geben?

  • Zuhören um verstehen zu wollen.

  • Nicht urteilen, nicht bewerten


Unser Hirn ist Weltmeister im Bewerten, Vergleichen und Verändern wollen. Deshalb ist Wertschätzung geben für viele eine Herausforderung. Ein Weg, der oft hilft ist, sich vom Bewerten abzulenken, indem man sich sagt: “Ich möchte ganz präzise verstehen, wie mein Gegenüber fühlt und empfindet.”


Bevor ich anderen Wertschätzung geben kann ist es wichtig, mir selber zuzuhören. Nur so kann ich aufmerksam sein für andere.



Sitzung mit sich selbst

Stelle dir folgende Fragen und beantworte sie ehrlich. Die Antworten sind ausschliesslich für dich selbst bestimmt. Kursiv unter den Fragen stehen Hinweise.


  • Wie geht es mir?
    Frage dich ein paar mal. Und warte, bis eine Antwort kommt. Es ist ungewohnt, weil wir uns solche Fragen nicht gewohnt sind. Leider.
  • Welchen Namen trägt das Gefühl, das ich gerade habe?

    Oft beschreibt man Situationen, ohne das Gefühl, das sie auslösen zu benennen. Benenne es. 

    angespannt, entspannt, nervös, gelassen, interessiert, gelangweilt, wütend, traurig, freudig, zufrieden?

  • Was brauche ich jetzt gerade? Was würde mir gut tun? 

    Was davon könnte ich mir geben? Ein paar Schritte Bewegung, Durchatmen, etwas trinken, mir selbst etwas sagen, …


Übung zu Zweit 

Teilt euch in zwei Rollen: Eine Person fragt, die andere gibt Auskunft. Die fragende Person führt das Gespräch. Alle Anweisungen unten sind für sie.



Aufgabe

Details und Hinweise

Vorbereitung: Haltung klären

Wichtig ist, dass du dies in einer Haltung des “Verstehen Wollens” machst. Zeige, dass du dir Zeit nimmst und interessiert bist.

Fragen: Wie geht es dir?

Schaue das Gegenüber an und gib etwas Zeit. Schweigen ist hier wichtig. Falls nichts kommt, versuche Mimik, Gestik, Haltung zu lesen und zu kommentieren: “Du wirkst… aufgestellt, bedrückt, gestresst,...”

Aktiv zuhören: “Wenn ich dich richtig verstehe…”

Sobald eine Antwort kommt, diese in eigenen Worten wiedergeben. Ein guter Start ist: “Wenn ich dich richtig verstehe…”


Sehr oft kommt dann noch mehr: “Genau, … und …” Die neuen Infos wieder mit Aktiv Zuhören bestätigen.

Bewertung erfragen: “Und was löst das bei dir aus?”

Oft bewerten wir Gehörtes nach unserem Massstab. Solche Gespräche verlaufen anders - besser! - wenn wir nachfragen, wie das Erzählte empfunden wird. 

Wie schlimm / schön ist es auf einer Skala von 1-10?

Manchmal wirken Skalierungsfragen Wunder. Jemand erzählt etwas ganz schlimmes, und wenn man fragt, wie schlimm von 1-10 es sei, sagt die Person: 6. Oder Umgekehrt: Es tönt harmlos und gibt eine 9. 


Unser Auftrag ist nicht, das zu Bewerten - sondern dem Gegenüber zu helfen, seine Emotionen zu sortieren. Das gelingt am besten. Wenn wir da sind, fragen stellen, NICHT bewerten. 



Die Nachfragetechniken können stark ausgebaut werden, womit sich das Gespräch sehr wertschätzend steuern lässt:


SteuerungsrichtungBeschreibung, TechnikBeispiele
Klärung von ÄusserungenNachfragen, gemeinsames Verständnis der Emotionen."Du wirkst auf mich..."
"Was meinst du damit, wenn du sagst..."
Erlauben eigenes anzusprechenOffene Fragen stellen."Wie geht es dir?"
Würdigen des BefindensAusdruck der wertschätzenden Anerkennung."Das muss eine schwierige Entscheidung für dich gewesen sein."
"Es scheint, als ob es dir inzwischen etwas einfacher fällt."
NormalisierenAusdruck der Normalität bezüglich der aktuellen Situation"Das geht vielen Menschen so."
ValidierenAusdruck der Angemessenheit / Verständlichkeit der aktuellen Situation"Es ist verständlich, dass du in dieser Situation so gehandelt hast."
Ermutigen zum GefühlsausdruckFrage nach den aktuellen Stimmungen"Es ist mir wichtig zu verstehen, wie du mit dieser Situation umgehst."
Anerkennung der Belastungen oder AnstrengungenAusdruck der Anerkennung"Ich finde es bemerkenswert, wie du das handelst."


Übertragen auf den Führungskontext aus einer Anleitung im Umgang mit Angst im Arzt-Patienten-Gespräch.



Präzisierung


Genau genommen können wir nicht nicht bewerten. Unser Gehirn ist eine Bewertungsmaschine. Wir können uns jedoch der Bewertungen bewusst werden. Und das gibt die nötigen Freiraum, ihnen mehr oder weniger Bedeutung zuzumessen. In Viktor Frankls Worten: „Zwischen Reiz und Reaktion liegt ein Raum. In diesem Raum liegt unsere Macht zur Wahl unserer Reaktion. In unserer Reaktion liegen unsere Entwicklung und unsere Freiheit.“


Quellen und weiterführende Links

- Zusammenfassung der relevanten Literatur

- Das Zuhören um verstehen zu wollen lehnt sich stark ans Konzept der Empathie von Carl Rogers

- Herzlichen Dank für die wichtige Präzisierung (siehe Absatz Präzisierung), Aline Rousselot